Von Employability zu Societal Agency – Eine (neue) Leitperspektive für Future Skills Ansätze?!
Ein Plädoyer

von Ulf-Daniel Ehlers  |  28. April 2025

In einer Welt, die sich rasant verändert, braucht auch unser Verständnis von Hochschulbildung und Qualifizierung einen tiefgreifenden Wandel. Es reicht nicht mehr aus, Studierende lediglich auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten. Die Anforderungen der Zukunft verlangen mehr: aktive gesellschaftliche Mitgestaltung, lebenslange Selbstwirksamkeit, ethisches Verantwortungsbewusstsein und die Fähigkeit, transformative Prozesse mitzugestalten. Es ist an der Zeit, Employability neu zu denken – und Societal Agency als neue Leitperspektive für die Entwicklung von Future Skills zu etablieren.

Was bedeutet Societal Agency?

"Agency" beschreibt die grundlegende Fähigkeit von Individuen, selbstbestimmt zu handeln, Entscheidungen zu treffen und aktiv Veränderungen herbeizuführen. "Societal Agency" erweitert diesen Ansatz in eine gesellschaftliche Dimension: Sie bezeichnet die Befähigung und Bereitschaft, nicht nur für die eigene Erwerbsfähigkeit, sondern für die aktive Mitgestaltung gesellschaftlicher Entwicklungen, sozialer Systeme und technologischer Innovationen einzustehen. Societal Agency bedeutet: Ich kann, ich darf und ich will die Gesellschaft, in der ich lebe, mitgestalten – beruflich, sozial, kulturell und politisch.

Eine erste Definition:

Societal Agency ist die Fähigkeit und Bereitschaft von Individuen, eigenverantwortlich, selbstorganisiert und gemeinschaftsorientiert in offenen, komplexen und dynamischen gesellschaftlichen Kontexten handlungsfähig zu sein und aktiv gesellschaftliche Entwicklungen mitzugestalten.

Warum reicht das klassische Employability-Verständnis nicht mehr aus?

Das ursprüngliche Konzept der Employability ist von einer klaren ökonomischen Verwertungslogik geprägt: Hochschulbildung dient in diesem Verständnis primär dazu, Studierende für bestehende Arbeitsmärkte fit zu machen. In den 2000er Jahren begannen sich diese Modelle weiterzuentwickeln – mit Fokus auf Schlüsselqualifikationen, Soft Skills und die Idee des lebenslangen Lernens bzw. lebenslange Beschäftigungsfähigkeit (vgl. Rigby et al., 2009; Osmani et al., 2015).

Mit Initiativen wie dem NextSkills-Projekt (2019) wurde ein noch umfassenderes Verständnis etabliert: Die Anregung dabei besteht darin, über bisherige Employability-Verständnisse hinaus auch weitere für Handlungsfähigkeit wichtige Kompetenzen/ Dimensionen wie Autonomie, Selbstorganisation, Selbstwert, Selbstwirksamkeit, Innovationsfähigkeit und Initiative mit hinzu zu nehmen – genau jene Fähigkeiten, die im Future Skills Modell von NextSkills verankert sind (www.nextskills.org).

Immer mehr wird deutlich, dass der Bezug zu aktiven Mitgestaltung von Gesellschaft eine grundlegende Dimension von future Skills Konzepten werden muss. Der Aspekt, Studierende nicht nur "fit for work", sondern vor allem "fit for society" zu machen ist zwar nicht neu, aber eben noch nicht überall expliziter und damit auch prüfungs- und zeugnisrelevanter Teil des Hochschulstudiums. In einer zunehmend komplexen Welt geht es nicht mehr nur um Anpassung an Arbeitsmärkte, sondern um aktive Mitgestaltung der Gesellschaft in weiteren gesellschaftlichen Hanldungsfeldern.

Von Employability zu Societal Agency: Eine notwendige Weiterentwicklung

  • Frühe Employability-Modelle: Fokus auf Anpassungsfähigkeit und unmittelbare Arbeitsmarktfähigkeit.
  • Erweiterte Employability-Konzepte: Integration überfachlicher Kompetenzen, Soft Skills und Förderung lebenslanger Lernprozesse.
  • Future Skills-Ansätze mit Societal Agency als Bezugskonzept: Subjektwissenschaftliche Wende – Employability als umfassende Handlungsfähigkeit in offenen und komplexen Lebenswelten. Erweiterung des Fokus auf die Befähigung zur gesellschaftlichen Gestaltung, Co-Creation und shared cognition (z.B. auch im Umgang mit KI-Technologien) und ethisch reflektierter Teilhabe an gesellschaftlichen Transformationsprozessen.

Societal Agency geht damit über klassische Vorstellungen von Employability hinaus. Sie verbindet individuelles Empowerment mit gesellschaftlicher Verantwortung und transformativer Gestaltungskraft.

Warum brauchen wir Societal Agency?

  • Komplexe gesellschaftliche Herausforderungen wie ökologische Krisen, technologische Disruptionen und soziale Fragmentierungen können nur durch mündige, selbstorganisierte und gemeinschaftlich handelnde Bürger:innen bewältigt werden.
  • Demokratische Gesellschaften sind auf aktive Teilhabe, kritisches Denken und kooperative Innovationskraft angewiesen – nicht auf passive Anpassung an bestehende Systeme.
  • Laufbahnen der Zukunft werden zunehmend von Nichtlinearität, sektorübergreifenden Wechseln, unternehmerischer Initiative und sozialer Innovationsfähigkeit geprägt sein. Berufliche Entwicklung ist untrennbar mit gesellschaftlicher Gestaltungsfähigkeit verbunden.
  • Freiheit ist ein zentrales Gut demokratischer Gesellschaften – doch sie ist kein statisches Privileg, sondern eine Kulturleistung, die gepflegt, verteidigt und ständig weiterentwickelt werden muss. Um individuelle und kollektive Freiheit in einer komplexen, dynamischen Welt zu sichern und auszubauen, braucht es Future Skills: Selbstorganisation, ethisches Urteilsvermögen, Innovationsfähigkeit und gesellschaftliche Verantwortung als gelebte Praxis.
  • Dabei ist Humanismus ein wichtiger Bezugspunkt: Er erinnert uns daran, dass Bildung immer auf die Entwicklung des ganzen Menschen abzielt – auf seine Fähigkeit zur Vernunft, zur Empathie, zur Selbstbestimmung und zur Mitgestaltung einer gerechten Gesellschaft. Future Skills und Societal Agency stehen damit in der Tradition eines modernen, zukunftsgerichteten Humanismus, der nicht nur Wissen vermittelt, sondern Persönlichkeiten formt, die Verantwortung für sich selbst und die Welt übernehmen können.

Die alte Formel "Ausbildung = Beschäftigungsfähigkeit" greift zu kurz. Bildung muss heute "Transformation durch Mitgestaltung" ermöglichen. Hochschulbildung sollte die Fähigkeit zur Co-Creation – insbesondere im Umgang mit digitalen Technologien wie Künstlicher Intelligenz – und zur verantwortungsvollen Gestaltung gesellschaftlicher Prozesse fördern.

Transformation und Co-Creation als Leitprinzip der Hochschulbildung

Transformation als Leitprinzip der Hochschulbildung bedeutet, Bildungsprozesse nicht mehr nur als Anpassung an bestehende gesellschaftliche Bedingungen zu verstehen, sondern als aktive Mitgestaltung von Zukunft. Co-Creation wird hierbei zum zentralen Paradigma: Studierende sollen befähigt werden, in Kollaboration mit anderen – Menschen, Technologien, Institutionen – neue Lösungen zu entwickeln und gesellschaftlichen Wandel aktiv mitzugestalten.

Praktisch bedeutet dies:

  • Neue Lernformate: Projektbasiertes Lernen, Living Labs, Innovationswerkstätten und kollaborative Lernplattformen.
  • Neue Rollenverständnisse: Lehrende als Lernbegleiter:innen und Co-Entwickler:innen; Studierende als aktive Co-Creators ihrer Bildungsprozesse.
  • Digitale Technologien: Nutzung von KI, Big Data und kollaborativen Tools, um partizipative Innovationsprozesse zu ermöglichen.
  • Curriculum-Entwicklung: Integration von transdisziplinären Projekten, gesellschaftlicher Problemorientierung und ethischer Reflexion als feste Bestandteile der Studienprogramme.

Diese Orientierung an Co-Creation und Transformation entspricht genau dem, was Future Skills-Ansätze wie NextSkills fordern: die konsequente Förderung von Autonomie, Innovationsfähigkeit, ethischem Bewusstsein und gesellschaftlicher Handlungskompetenz.

Neues Denken für Assessment und Prüfungssysteme

Wenn Future Skills tatsächlich zum Herzstück der Hochschulbildung werden sollen, reicht es nicht aus, nur Lehrformate und Curricula anzupassen. Es bedarf auch eines grundlegenden Wandels der Assessment- und Prüfungssysteme. Hochschulen müssen neue Wege finden, um Future Skills transparent sichtbar zu machen, sie explizit zu bewerten und in den akademischen Abschlussprozess zu integrieren.

Dazu gehören:

  • Neue Formen der Leistungsbewertung: Portfolioarbeit, Kompetenznachweise, projektbasierte Prüfungen und reflexive Assessments statt ausschließlich klausurbasierter Wissensabfragen.
  • Transparente Dokumentation von Future Skills: Future Skills sollten explizit in Zeugnissen ausgewiesen werden, z.B. durch Kompetenzprofile oder separate Future Skills Certificates.
  • Integration in Curricula und Modulbeschreibungen: Future Skills müssen systematisch curricular verankert werden, sichtbar in Modulhandbüchern und Studienverlaufsplänen.
  • Neue Symbole akademischer Praxis: Einführung von Open Badges, digitale Micro-Credentials, personalisierte Kompetenzportfolios und Kompetenztranskripte, die sichtbar machen, welche Future Skills entwickelt wurden.

Beispiele:

  • Ein Studierender erhält zusätzlich zum klassischen Bachelor-Zeugnis ein digitales Kompetenzportfolio, das seine Future Skills in Bereichen wie Innovationsfähigkeit, kritisches Denken und Selbstorganisation dokumentiert.
  • Studiengänge vergeben "Future Skills Badges" für nachgewiesene Kompetenzen in Projekten oder Praxisphasen.
  • Curricula integrieren Future Skills explizit als Learning Outcomes in jedem Modul und machen sie damit auch für Arbeitgeber:innen, Gesellschaft und die Studierenden selbst nachvollziehbar.

Hochschulen stehen damit vor der Herausforderung – und der großen Chance –, neue Formen der Leistungsfeststellung zu entwickeln, die den komplexen Anforderungen der Zukunft gerecht werden. Sie müssen Erfahrungen sammeln, Pilotprojekte wagen und aufzeigen, wie Future Skills messbar, sichtbar und anerkannt gemacht werden können.

Nur so wird Societal Agency als neues Leitkonzept für Future Skills nicht nur gedacht, sondern konkret gelebt und gestaltet.

Ein Plädoyer: Societal Agency als neues Leitkonzept für Future Skills

Unser Vorschlag: Future Skills-Modelle müssen zukünftig Societal Agency ins Zentrum rücken. Statt Employability lediglich als individuelle Arbeitsmarktfähigkeit zu verstehen, schlagen wir ein erweitertes Verständnis vor:

  • Hochschulbildung als Ermöglichungsraum für gesellschaftliche Co-Creation, Transformation und nachhaltige Innovation.
  • Future Skills als Schlüsselkompetenzen für Selbstbestimmung, Innovationskraft, kritisches Denken und ethische Verantwortung.
  • Employability nicht als rein ökonomische Verwertbarkeit, sondern als umfassende gesellschaftliche Handlungsfähigkeit begreifen.

Societal Agency erweitert damit das Paradigma von Bildung, Arbeit und gesellschaftlicher Teilhabe. Es geht um Menschen, die sich selbst organisieren können - und zwar in Kooperation mit anderen – und die zugleich ihre soziale, technologische und ethische Verantwortung bewusst erkennen und wahrnehmen. Future Skills, wie wir sie im NextSkills-Ansatz entwickeln, schaffen die Grundlage dafür: Sie fördern Selbstwirksamkeit, Reflexionsfähigkeit, systemisches Denken und kooperative Innovationskraft.

Lassen Sie uns gemeinsam an einer Bildung arbeiten, die Studierende nicht nur befähigt, erfolgreich zu arbeiten, sondern Verantwortung für die Gestaltung unserer gemeinsamen Zukunft zu übernehmen.

Mehr zu unseren Forschungsarbeiten und Initiativen auf www.nextskills.org

Prof. Dr. Ulf-Daniel
Ehlers

Leiter der Forschungsgruppe und Professur für Bildungsmanagement und Lebenslanges Lernen

Datenschutzeinstellungen

Sie können hier die Einstellungen für die Cookies anpassen.

Wählen Sie bitte aus, welche Cookies Sie akzeptieren möchten und bestätigen Sie durch Klicken des Button. Sie werden anschließend auf die Startseite zurückgeleitet.

Bitte beachten Sie, dass beim Setzten des Hakens "Externe Medien" Daten, wie Beispielsweise Ihre IP-Adresse, an Google und somit möglicherweise in ein Drittland ohne Datenschutzabkommen übermittelt werden. Dies geschieht insbesondere, wenn Sie unsere Videos anschauen.